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„Wir haben hier alle Welten auf einem Fleck."

Der in Weimar lebende und arbeitende Musiker Martin Kohlstedt sorgt mit seinen Eigenkompositionen, bei denen er Klavierklänge und elektronische Elemente mischt, national und international für Furore. Ein Interview über Lampenfieber, Kreativität und die Inspiration durch das Leben in Thüringen.

Herr Kohlstedt, Sie sitzen in Ihren Konzerten schon mal mit dem Rücken zum Publikum. Das wirkt durchaus eigenwillig. Was hat dieses räumliche Arrangement mit Ihrer Musik zu tun?
 

Kohlstedt: So möchte ich zeigen, dass ich nicht unterhalten, sondern mitnehmen will. Ich sitze praktisch im Cockpit, das Publikum sitzt hinten und wir fahren alle in dieselbe Richtung.

Sie geben schon seit Jahren erfolgreich Konzerte. Haben Sie trotzdem noch Lampenfieber?
 

Kohlstedt: Bei mir ist es eine Aufregung, die das richtige Setting und eine gute Atmosphäre für die Musik schaffen möchte. Und wenn dann alles stimmt, werde auch ich komischerweise ruhig und nehme am Drumherum nicht mehr teil. Ich habe das Gefühl, dass der Moment, in dem das Konzert beginnt, der öffentlichste ist und zugleich der intimste. Denn genau dann bin ich am meisten bei mir.

Wie nähern Sie sich Ihren Stücken bei Live-Aufführungen?

 

Kohlstedt: Meine Art von Musik ist ein fortwährendes Verhandeln. Das optimale Konzert gibt es nicht, die Stücke sind immer im Prozess. Ich entscheide mich oft erst kurz bevor ich anfange, in welcher Tonart ich ansetze. Und ich habe eine Art modulares Kompositionskonzept entwickelt, bei dem ich jedem meiner Motive drei Buchstaben verliehen habe. Die jage ich dann live aufeinander los und verknüpfe sie zu Phrasen. In diesem Moment des Diskurses mit dem Publikum höre ich mein Stück dann das erste Mal so richtig und sehe, was daraus geworden ist.


Sind Sie mit Ihrer Herangehensweise schon einmal gescheitert? 
 

Kohlstedt: Für mich ist es schwer, wenn Redaktionen oder Veranstalter mich vor einem Konzert auf ein Podest heben. Und dann komme ich mit meinem krummen Am-Klavier-Sitzen und versuche auf Augenhöhe eine Konversation mit dem Gegenüber zu starten. Gerade in klassischen Häusern halten sich dann plötzlich alle an den Sesseln fest, weil das nicht der Norm entspricht. Aber dass das Ganze auch scheitern kann, macht es für mich erst richtig interessant.

 

Was bedeutet für Sie Erfolg?
 

Kohlstedt: Wenn ich ganz bei mir selbst ankomme und Katalysator von Publikum und Musik bin. Sobald jede Art von Kontrolle und Wertung verschwunden ist und die Menschen im Publikum bei sich landen können, empfinde ich das als Vertrauen - und somit als Erfolg.

Welche Voraussetzungen brauchen Sie, um kreativ zu sein und Musik wirken zu lassen?
 

Kohlstedt: Für mich sind Stille und Ortsbezug sehr wichtig. Ich komme aus einer ländlichen Thüringer Region, die auch meine Inspiration ist. Wenn ich meine Selbstgespräche am Klavier führe, dann ist die Stille tatsächlich ein wichtiger Bestandteil davon.


Und was macht Thüringen als Heimat für Künstler und als Ausgangspunkt für Ihre eigenen Karrieren darüber hinaus aus?
 

Kohlstedt: Wir haben hier alle Welten auf einem Fleck. Ich bin in zwei Minuten in der Einsamkeit und trotzdem gibt es viel Leben durch die Bauhaus-Uni und Musikhochschulen. Hier herrscht auch ein irrer Gemeinschaftssinn, der mich seit der Kindheit begleitet. Im Musikbusiness begegnet man dem ja bekanntlich nicht allzu häufig. Deswegen habe ich auch viele vertraute Leute in meinem Team, die aus meiner Gegend kommen. Keine Agenturen, sondern Menschen, denen ich tagtäglich in die Augen schaue, um gemeinsam etwas aufzubauen.


Wo sehen Sie den Unterschied zu den typischen Musikmetropolen wie Berlin, Hamburg oder München?
 

Kohlstedt: Man kann vielleicht sagen, dass es hier eine Reifezeit für die Kunst gibt. Sie kann einfach für sich stehen und muss nicht zwangsläufig Marketingansprüchen genügen. Ich mache teils siebenminütige Stücke, die auf vielen Wiederholungen basieren. Sie versuchen nicht auf Zwang zu überzeugen oder sich zu messen wie in Berlin, wo eine Ausstellung neben der anderen eröffnet, und Kunst sich praktisch überschlägt. Aus dieser Reifezeit resultiert in meinen Augen somit auch eine andere Art von Kunst.

Urheber: SPIEGEL ONLINE

 

Veröffentlicht am:
30.03.2022