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Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Kultur muss sich frei entfalten können, auch wenn sie neuartig und unbequem ist. Das hat in Thüringen eine gelebte Tradition – von der Weimarer Klassik bis zur Technomusik.

Der Weg zum Kulturgenuss kann verschlungen sein. Seit mehr als 20 Jahren führt er durch ein Waldstück in der Nähe von Bad Klosterlausnitz. In einem ehemaligen Kasernengebäude der NVA tauchen Anhänger elektronischer Musik ab in eine Welt aus schnellen Beats und grellen Lichteffekten.

Der dort untergebrachte Club Muna zählt zu einer der ersten Adressen der internationalen Technoszene. Begonnen hatte es Mitte der 90er-Jahre, als sich das Muna in der ostthüringischen Provinz wegen der ausgefallenen Location und wagemutiger DJs seinen Ruf erwarb.

 

Technobotschafter aus Gera

Ein erfolgreicher DJ-Pionier ist Mathias Kaden. Schon als Jugendlicher begann er in seinem Heimatort Gera damit, Partys zu organisieren, und zählte bald zu den Attraktionen im Muna. Heute tritt Kaden von Europa über Lateinamerika bis Asien auf, und das Goethe-Institut hat den 36-Jährigen zum Botschafter der Technokultur made in Germany ernannt. In dieser Funktion leitet er beispielsweise DJ-Workshops in Japan. Wohnen blieb er in Gera – ganz bewusst: "Wenn ich von meinen Reisen zurückkomme, brauche ich die Erdung, die Ruhe, meine Freunde. In Gera bin ich zu Hause, da verliere ich mich nicht so sehr."

Thüringen ist ein Land, in dem die klassischen "Dichter und Denker" und die Vertreter junger Kunstformen gut miteinander auskommen. Die Unterschiede zwischen Sub- und Hochkultur oder zwischen "ernst" und "unterhaltsam" stellen hier keine Hemmnisse dar. Und wer das sinnliche Erleben zu unseren kulturellen Errungenschaften zählt, wird in der Region auch von exquisiten Kochkünstlern verwöhnt.

Jugend musiziert – auch im digitalen Zeitalter.

 

Wie kontrastreich das Kulturleben ist, zeigt allein der Blick auf die Festivals im Freistaat: Während im Frühjahr die Liebhaber klassischer Musik zu den Konzerten der weltberühmten „Thüringer Bachwochen“ strömen, zieht das Open-Air-Festival „SonneMondSterne“ Elektrofans aus ganz Europa an – rund 35 000 Besucher zogen zuletzt auf das Gelände an der Bleilochtalsperre in Saalburg. Bei der „Kulturarena Jena“ zeigt sich die traditionsreiche Universitätsstadt jeden Sommer zwei Monate lang offen für die unterschiedlichsten Jazz- und Rockkonzerte, aber auch für Theater und Experimentelles.

Altes wird fortgeführt, Neues entwickelt: Das gilt nicht nur für die Musik, sondern allgemein für das Kulturleben im digitalen Zeitalter. Die klassischen Künste haben für die jüngere Generation nach wie vor ihren Reiz. Es wird nicht nur im Netz gesurft und über Smartphones gewischt, sondern ein Drittel aller Jugendlichen widmet sich in der Freizeit dem Malen, Musizieren, Dichten oder Schreiben. Fast zehn Millionen Bundesbürger über 14 Jahre spielen ein Instrument. Auch der Lesehunger hat nicht nachgelassen: Mit 355 Millionen jährlich verkauften Büchern ist Deutschland gleich nach dem chinesischen und dem US-amerikanischen Buchmarkt der drittgrößte weltweit ­– kein Grund für Kulturpessimismus also.

Kunst braucht Unruhe

In Weimar, dem Hort der deutschen Klassik, kann man die reizvolle Symbiose von alter und neuer Kultur aktiv erleben. Millionen von Besuchern wandeln dort auf den Spuren von Schiller und Goethe und bewundern die kostbaren Bestände der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Gleichzeitig ist die Stadt ein Anziehungspunkt für junge Kulturschaffende und kreative Gastronomen – was das international renommierte „Kunstfest Weimar“ unterstreicht. Im „Weimarer Künstlerhaus“ erhalten junge, mit Stipendien geförderte Künstler die Chance, an historischer Stätte – mit Blick auf die Gräber der Dichterfürsten – ihre Werke zu entwickeln. Was auch immer bedeutet: Neues entdecken, Grenzen überschreiten, provozieren.

Rebellischen Geist zuzulassen ist existenziell für die Kunst. Nur so können aus Unruhestiftern große Künstler werden. Zu Zeiten Friedrich Schillers war das nicht anders. Der junge Sturm-und-Drang-Dichter musste 1782 über Nacht aus Württemberg fliehen. Der Grund: Sein Theaterstück „Die Räuber“, das heute zur Pflichtlektüre im Deutschunterricht zählt, war der württembergischen Obrigkeit zu aufmüpfig.

Herzog Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach gewährte Schiller damals Exil im heutigen Freistaat Thüringen. In seinem Großherzogtum herrschte nach den Grundsätzen des aufgeklärten Absolutismus ein ungewöhnlich liberaler Geist, und er gab 1816 seinem Land als Erster eine Verfassung, die den Untertanen Pressefreiheit und Meinungsfreiheit garantierte.

 

Gestern Schiller, heute Slammer

So entwickelte sich Weimar zur fruchtbaren Wahlheimat von Literaten wie Schiller, Goethe oder Herder – die Geburtsstunde der Weimarer Klassik. Im gleichen Klima zog es fortschrittlich und radikal denkende Philosophen wie Fichte und Hegel an die Universität von Jena. Das zeigt: Eine subversive Kulturform, die anfangs noch viel Skepsis hervorruft, birgt immer auch das Potenzial eines zukünftigen Klassikers in sich.

Insofern kann man den Kulturstar von morgen möglicherweise heute schon erleben – zum Beispiel als ungestümen Sprayer beim „Urban Art Festival WALLCOME“ in Schmalkalden (einem Event für Street-Art und Graffiti, das sich in kurzer Zeit fest etabliert hat) oder als Kandidaten auf einem Poetry-Slam-Abend in Erfurt.

Urheber: FAZ

Den Originalbeitrag finden Sie unter: www.faz.net

Veröffentlicht am:
10.12.2021