Maria Groß und Ralf Zacherl. Unterwegs in Sachen Genuss.
Die leckerste Art, Thüringen zu entdecken.
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Seine Liebe zu Schokolade hat er über viele Umwege entdeckt: Aussteiger, Musiker, Grafiker, Selfmadekoch. Heute betreibt Alex Kühn Erfurts bekannteste Manufaktur für süße Genüsse. Sein Erfolgsrezept: improvisieren mit Leidenschaft.
Aus der länglichen unebenen Masse ragen ganze Haselnüsse. „Winter-Eichhörnchen“, so hat Alex Kühn, 44, eines seiner neuesten Werke genannt. Und so sieht Schokolade nur in Erfurt aus, in der Manufaktur Goldhelm auf der berühmten Krämerbrücke. Hier gibt es keine genormte Tafel. Alles Unikate – von Hand verarbeitet. Und wie vom Zufall geformt.
Als sich Alex Kühn vor zwölf Jahren selbstständig machte, reichte der knapp bemessene Bankkredit nicht aus, um sich eine richtige Gussform leisten zu können: „Meine erste Schokolade habe ich einfach auf so einer Marmorplatte ausgezogen. Wie so ’nen Klecks. Wenn du Glück hattest, wog die Tafel 110 Gramm, und wenn du Pech hattest, nur 90 Gramm.“ Auf dem dunklen Klecks verteilte er dann kleine rosafarbene Körner. Auch die Verpackung entstand im Do-it-yourself-Verfahren: Klarsichtfolie und ein selbst beschriftetes Stück Papier mit dem Namen „Rosa Pfeffer“. Die Sorte gibt es noch immer. Sie ist ein Verkaufsrenner von Goldhelm, der inzwischen weit über Thüringens Grenzen hinaus bekannten Marke feinster Schokodelikatessen.
Ein Improvisationskünstler, agil und unkonventionell, ist Alex Kühn geblieben. Dreitagebart, Jeans und T-Shirt, unter der Basecap ein offenes Lachen: So trifft man den Goldhelm-Chef an, wenn er sich heute zwischen seinen Standorten hin und her bewegt – seiner Schokoküche, zwei Cafés und dem Verkaufsladen mit großem Sortiment an Tafeln, Pralinen und Brotaufstrichen. 80 Mitarbeiter beschäftigt er, und der Chocolatier von Erfurt wacht noch immer höchstpersönlich über jede seiner Rezepturen, kümmert sich um viele Details der strikten Manufakturherstellung. Sein Credo: „Man sieht und schmeckt das, ob da hinten jemand in der Küche steht und mit Liebe und Leidenschaft etwas produziert oder nicht.“
Ein Chocolatier. Jemand, der sich der Schokoladenveredelung verschrieben hat. Ein traditionsreicher Beruf, der stark in der frankophilen Genusskultur verwurzelt ist. Dass der gebürtige Erfurter sie für sich entdeckte, hängt mit einem Glücksfall zusammen – wie so vieles in seinem Leben. „Ich stand plötzlich vor den ganzen gebuchten Gästen“, erinnert er sich, „und konnte gar nicht kochen. So ging das los.“ Kühn jobbte damals, vor mehr als 20 Jahren, als Kellner in einem französischen Restaurant in der Nähe von Erfurt. Vor einem sommerlichen Dinner war der Koch kurzfristig ausgefallen. Kühn sprang mutig ein und improvisierte: Er kochte nicht nur, sondern unterhielt die Gäste auch – mit „der Klampfe in der Hand“ und locker erzählten Anekdoten aus seinem Leben, das bis dahin kurvenreich, aber ohne richtiges Ziel verlaufen war. Die Gäste waren begeistert, und Kühns Leben nahm eine neue Richtung auf.
"Alle meine Interessen, für die es schwierig war, einen Beruf zu finden, habe ich auf einmal beim Essen wiedergefunden."
Der Freiheitsdrang blieb, auch als Alex Kühn versuchte, in seiner Heimatstadt wieder Fuß zu fassen. Er probierte einiges aus. Doch erst mit der Arbeit im Restaurant hatte er das Gefühl, dass ihm seine Grafikerausbildung erstmals zugutekommen könnte: Neben dem Kochen machte es ihm großen Spaß, Einladungen und Menükarten zu gestalten. Dann wuchs der Wunsch in ihm, etwas Eigenes aufzubauen. Als sein Bruder ihm sagte, in seiner Nachbarschaft sei eine Gewerbefläche frei geworden, nahm dieser Traum auf einmal Gestalt an. Ein eigener Laden, so wie in dem französischen Film „Chocolat“ mit der bezaubernden Juliette Binoche, das wäre es: handgezogene Pralinen, betörende Kakaomixturen, umgeben von einer wohlig-warmen Atmosphäre.
Kühn brannte für diese Idee so sehr, dass er der Stiftung Krämerbrücke ein Nutzungskonzept vorstellte. Diese setzt sich dafür ein, dass in den Häusern auf diesem im zwölften Jahrhundert errichteten Brückenbauwerk über der Gera der einzigartige historische Charakter bewahrt bleibt. Eine Manufaktur, die auf altem Konditorhandwerk basiert, inmitten des von Kunsthandwerkgeschäften geprägten Ensembles – das überzeugte die Stiftung. Und der zurückgekehrte Sohn der Stadt startete als begeisterungsfähiger Einmannbetrieb seine „Chocolat“-Variante.
Die Goldhelm Schokoladen Manufaktur hat sich zur Attraktion der Krämerbrücke entwickelt. Auch wenn er den Druck durch industrielle Hersteller spürt, ist Alex Kühn stolz darauf, für seine Produktionsweise ausschließlich Zutaten aus der Region und dem Fairtrade-Handel zu verwenden: „Wir klettern auf Bäume, wir pflücken Mirabellen, und ich beziehe meinen Kakao direkt aus Peru, anstatt einfach Kuvertüre einzukaufen.“ Seine Mitarbeiter beschäftigt Kühn ganzjährig, trotz der saisonalen Schwankungen im Verkauf von Schokolade und bei den gastronomischen Betrieben, zu denen auch das Café Eiskrämer gehört.
Der „Erfurter Unternehmer des Jahres 2017“ ist selbst unermüdlich im Einsatz, seinen Schöpfungen in den raffiniertesten Geschmacksrichtungen – mehr als 1000 sollen es sein – stetig neue hinzuzufügen. „Ein Hochleistungssport ist das, was wir hier machen“, sagt er. Um fit zu bleiben, teilt Alex Kühn eine große Leidenschaft mit seinem Vater: Dreimal die Woche steigt er auf sein Rennrad, jeweils für 100-Kilometer-Touren. Bei diesen Ausflügen in die Umgebung ist ihm schon manche Idee gekommen, etwa „Le Tour Schokolade“, die er dann mit dem heimischen Radprofi Marcel Kittel umgesetzt hat.
Oft kommen die Inspirationen direkt aus der Natur. Ein Beispiel: Lange habe er für seine Schokolade japanische Limette verwendet. Um dann festzustellen, dass die heimische Mirabelle im Geschmack viel intensiver sei – „wenn du sie zum richtigen Zeitpunkt pflückst“. Mit seiner Frau und drei Kindern wohnt Kühn schon seit Längerem am Waldrand von Erfurt. Im Sommer 2019 möchte er auch seine Produktion aus dem Gewerbegebiet ins Grüne verlagern. Kühn baut gerade ein altes Fachwerkhaus aus, wo dann künftig Früchte aus der Umgebung direkt vor Ort verarbeitet werden und Kühe die Milch für Eis und Schokolade liefern sollen. Kühn: „Die Natur tut uns allen gut.“
Im neuen Domizil möchte Alex Kühn sein Wissen über naturbezogene, handverlesen hergestellte Produkte auch weitergeben, zum Beispiel bei Hoffesten und Seminaren: „Diese Produktionsweise wird zunehmend wertgeschätzt, es gibt immer mehr Menschen, die das Leben genießen wollen.“ Die Besucher werden sich dann – ähnlich wie auf der Krämerbrücke – auf historischem Grund bewegen. Das jahrhundertealte Rittergut diente zeitweilig als Postkutschenstation. Hier machte auch der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe einmal Rast, um sich zu stärken, möglicherweise sogar mit einem köstlichen Trunk aus Schokolade.
Nach diesem gelösten mediterranen Abend wusste Kühn, gelernter Grafiker, Gelegenheitskellner und damals ohne sichere Existenzgrundlage: „Alle meine Interessen, für die es schwierig war, einen Beruf zu finden, habe ich auf einmal beim Essen wiedergefunden.“ Er arbeitete sich ein, wechselte vom Service in die Küche und lernte dabei die sinnliche Komponente zu schätzen, die in der Zubereitung und Verfeinerung von Speisen liegt.
Dann kam – wieder einmal – so ein Glücksfall. Alex Kühn war 2005 als Koch vom außerhalb gelegenen Franzosen auf die Krämerbrücke gewechselt, wo sein Bruder Stefan das Restaurant Mundlandung eröffnet hatte. Dort waren die zwei Kühns, Söhne des zu DDR-Zeiten sehr erfolgreichen Radrennfahrers Wolfgang Kühn, für kurze Zeit wiedervereint. Direkt nach der Wende hatten sie gemeinsam Erfurt verlassen und waren für ein paar Monate nach Australien gegangen. Ohne Rückflugticket: „Ich wollte nur weg, reisen. Einfach am Flughafen stehen und wissen: Alles, was man besitzt, ist in einem Rucksack.“
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