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Willy Brandt: am Fenster

Willy Brandt in Erfurt

Brandt wird empfangen! So deutlich ist die Weisung aus Moskau, dass die Führung in Berlin spuren muss. Nach zähen Verhandlungen über das Wie und das Wo begrüßt der Ministerpräsident der DDR, Willi Stoph, den Bundeskanzler der BRD, Willy Brandt, am 19. März 1970 „in der Blumenstadt Erfurt“. Brandt bedankt sich für das gute Wetter und lässt sich über den nagelneuen roten Teppich führen. Die Agenda ist genau festgelegt. Zu brisant ist das Treffen, um Details dem Zufall zu überlassen. Und dennoch gerät dieser Vormittag für einen der Namensvettern zum Desaster, für Willi Stoph.

Etliche Bürger des „Arbeiter- und Bauernstaates“ haben Brandt bereits entlang der Bahnstrecke zugewinkt. Nun sind mehr als 2.000 Menschen auf den Bahnhofsvorplatz geströmt, Volkspolizei und Staatssicherheit können sie nicht zurückhalten. Vor dem Tagungshotel „Erfurter Hof“ durchbricht die Masse immer wieder die Absperrungen und ruft: „Willy Brandt! Willy Brandt!“ Kaum haben der Kanzler und der Ministerpräsident im Konferenzsaal Platz genommen, verlangen die Menschen mehr: „Willy Brandt ans Fenster!“ Brandt weiß, was auf dem Spiel steht. Er darf Stoph nicht düpieren, indem er sich feiern lässt. Er kann die Situation auf dem Platz aber auch nicht eskalieren lassen, indem er sich verweigert. Also geht Brandt ans Fenster, lächelt zaghaft und hebt einmal die Hand. So kurz dieser Moment ist – die Fotos, die ihn festhalten, gehen ins kollektive Gedächtnis ein. Sie stehen für den einzigen Tag zwischen dem Arbeiteraufstand von 1953 und den Montagsdemonstrationen von 1989, an dem Bürger der DDR gemeinsam zeigen konnten: Wir wollen eine andere Regierung.

Veröffentlicht am:
17.01.2022